Wer kennt es nicht, das beeindruckende Orchesterwerk des französischen Komponisten Maurice Ravel. Er schuf im Jahr 1928 jenen langen „Boléro“ als Balettstück, der leise und unmerklich beginnt, sich zunehmend ins Wahrnehmbare steigert und in einem unüberhörbaren Finale gipfelt. Ein solcher „Boléro“ bewegt sich gerade auf die Arbeitswelt zu.
Noch sind wir mit den Herausforderungen und Chancen der „nachholenden Digitalisierung“ (Schröter) befasst. Betriebsräte, Vertrauensleute und Beschäftigte betten mit Hilfe kluger Arbeitsorganisationsmodelle vorhandene informationstechnische Werkzeuge in den Arbeitsalltag ein. Mobile Endgeräte, „kluge“ Kleidungsstücke (wearables), „kluge“ Brillen (glasses) und vieles mehr werden über Betriebsvereinbarungen zu Assistenztechniken für den Menschen. Mehr als drei Viertel aller derzeitigen Technikeinführungen nutzen technische Innovationen, die schon zehn oder mehr Jahre auf dem Markt sind. In den Betrieben werden sie als neu empfunden und als neu im Sinne von „4.0-Anwendungen“ dargestellt.
Doch unter dem Gesichtspunkt der Technikentwicklung handelt es sich zumeist um IT-Konstrukte, die mit hohem Förderaufwand aus Steuergeldern entwickelt wurden und dann aber in kein betriebliches Geschäftsmodell einflossen. Ein Beispiel sind die vom Bund einst maßgeblich gesponserten „Softwareagenten“, die vor mehr als zehn Jahren als Assistenz- und Delegationstechniken das Licht der FuE-Welt erblickten. Heute verbergen sie sich hinter den cyber-physischen Systemen als vermeintlich allerneuester Innovationsschritt.
Die „nachholende Digitalisierung“ bringt vor allem jene IT-Technik in die Geschäftsmodelle, die in den zurückliegenden Jahren wegen zu hoher Einführungsaufwände und zu geringen Kostenvorteilen auf die lange Bank geschoben wurden. Ein zugegebenermaßen wirkungsvolles Marketing („Industrie 4.0“) bringt unzureichend genutzte technische Innovationen in das Blickfeld der Entscheidungsträger und in die Shops. Erforderlich sind zusätzliche Anpassungs- und Kompatibilitätsspezifikationen.
Doch es wäre ein grober Fehler, würde man das mediale Transportgut „Vier-Null“ nur als oberflächliches Marketing abtun. Hinter dem lauten Messe- und Vertriebslärm der Verkäufer von in der Regel tradierter Ware beginnt eine andere Melodie. Es ist die Digitalisierung hinter der Digitalisierung, die unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen muss. Wir dürfen die notwendige Vorspeise des digitalen Menüs nicht mit seinem Hauptgang verwechseln. Es ist ein „Boléro“ des Wandels, der leise beginnt und noch schwer hörbar ist, sich aber verstärkt und große Chancen hat, die Bühne komplett für sich zu gewinnen.
Zu reden ist von jenen „autonomen Software-Systemen“ (ASS), die in der Sprache der IT-Szene selbst lernen, selbst entscheiden, sich selbst verändern und selbst rechtsverbindliche Transaktionen in Echtzeit hinter dem Rücken des Menschen veranlassen. Ihre Nutzung befindet sich noch in der Experimentierphase. Sie können noch nicht „besichtigt“ werden. Sie kommen noch nicht in den Schaufenstern der Messen vor. In den Experimenten finden wir erste kurze Anwendungsketten, eher noch Testsimulationen. Diese Sicht gilt, wenn man vom Blickwinkel betriebsübergreifender horizontaler Wertschöpfungsketten ausgeht. Betrachtet man die betriebsinternen vertikalen Wertschöpfungsketten, so sind dort schon größere Fortschritte im Feld der Insellösungen zu erkennen.
Doch der „Boléro“ der „autonomen Software-Systeme“ hat begonnen. Erst wenige nehmen die noch zurückhaltende Melodie wahr. Wenn der Takt dieser Systeme die kleinen und großen Bühnen ergriffen hat, wird der Zeitdruck für die soziale Gestaltung des Wandels immens. Jene, die den „Boléro“ der sich in diesem Sinne wandelnden Arbeitswelt schon hören durften, sollten sich rasch zusammenfinden, um zum frühest möglichen Zeitpunkt gestalterisch vorausschauend im Sinne des arbeitenden Menschen einzugreifen. Wir sollten diese Art von „Boléro“ nicht nur als Ballettangebot betanzen, sondern bei seiner Aufführung sowohl in den Rhythmus wie auch in die Regie eingreifen. Der Takt ist das Geheimnis. Wer gibt ihn vor? Wer ist wessen Assistent?