These 1 Eine neue Anordnung bestehender Technologien
Seit längerem diskutieren Betriebsräte, Vertrauensleute, Beschäftigte in und mit der IG Metall sowie in Partnernetzwerken über die Chancen und Auswirkungen des Wandels der Arbeit hin zu „Industrie 4.0“. Dabei fließen unterschiedliche Erfahrungen und Gewichtungen in die Debatte ein. Die nachfolgenden Thesen versuchen den Diskussionsverlauf zu strukturieren. Die Thesen laden zu Kommentierungen, Widerspruch, Zustimmung und Weiterentwicklung ein.
Was ist neu an „Industrie 4.0“ bzw. „Arbeit 4.0“? Als neue Qualität lässt sich eine Bündelung von mehreren Faktoren benennen:
Seit mehr als zwei Jahrzehnten werden Arbeits- und Geschäftsabläufe von der Papierwelt in die Netzwelt übertragen, werden Maschinen mit Datensteuerung „intelligent“ gemacht und Produktionsprozesse kundenorientiert ausgerichtet. Der Übergang ins Netz (Digitalisierung) und die Organisation von Prozessabläufen im Netz (Virtualisierung) gelangen durch die technischen Verbesserungen in den Bereichen Softwareentwicklung, Speicherung und Breitbandnutzung immer optimaler. Unter „Industrie 4.0“ ist keine neue Technologie zu verstehen. Es handelt sich vielmehr um eine neue Anordnung und neue Kombination von technischen Bausteinen, die schon länger in Gebrauch sind. Das reicht vom Internet der Dinge über Cloud Computing bis hin zur menschenähnlichen Robotik. Diese Einzelbausteine müssen organisatorisch und technisch harmonisiert werden.
Welf Schroeter says:
Betrachtet man die vielen technischen Einzelbausteine, dann lässt sich festhalten, dass „Industrie 4.0“ nicht „eine“(!) neue Technologie darstellt, sondern eher eine Art Satzbaukasten bildet. Je nach Bedarf und je nach Geschäftsprozessen, je nach Branche oder Gewerk wählen die Unternehmen eine angepasste Kombination verschiedener Bausteine aus, die ihrem jeweiligen Ablauf am ehesten mehr Effizienz ermöglicht. Dies bedeutet im Endeffekt, dass in jedem Betrieb eine andere Variante von „Industrie 4.0“ anzutreffen sein wird. Das Konzept ist jeweils vergleichbar, die operative Umsetzung unterscheidet sich. „Industrie 4.0“ ist kein fertiges Korsett oder gar vorgefertigtes Kostüm. Die Variantenvielfalt der Umsetzung wird neue Produktivität und Innovationen hervorrufen. Dies bedeutet für Betriebsräte, dass sie nicht nach starren Mustern suchen, sondern eher die Methode erfassen müssen.
Manfred Buerger says:
Es geht aus gewerkschaftlicher Sicht darum, die Konsequenzen aus den wesentlichen technischen Veränderungen für den betrieblichen Arbeitsprozess, für die Arbeit im überbetrieblichen und gesellschaftlichen Rahmen, für Entlohnung und Beschäftigung (Zahl und Qualität der Arbeitsplätze), notwendige Qualifikationen und Weiterbildung einzuschätzen.
Dazu ist auch die technische Charakterisierung der Veränderungen zu erweitern: Es handelt sich um einen Automationsschub mit zunehmendem System-Charakter der Produktion, der Tätigkeiten der Steuerung und Kontrolle noch stärker betont, letztlich eine Verschiebung zu Modell-, Programmier- und Simulations-Tätigkeiten beinhaltet. Die zunehmend vernetzte, vom Gesamt-System bestimmte Produktion drückt sich auch in zunehmender Vernetzung der auf System-Steuerung und –Optimierung bezogenen Tätigkeiten aus. Diese erscheinen als informationstechnische Abläufe auch zunehmend virtuell.
Für die Arbeitnehmer bedeutet dies eine weitere Verschiebung von manueller zu geistiger Arbeit, allerdings auch die Verbindung von Kenntnisbereichen, vor allem von Facharbeiter-Kenntnissen und Fähigkeiten der Modellbildung und Programmierung (Ingenieur-Qualifikationen). Es ergeben sich umfassende Konsequenzen für Arbeitsteilung, Arbeitsorganisation, Qualifikation und Arbeitsbewertung.
Komplexe Systeme sind aber nur in kooperativer Arbeit in ihren bestimmenden Zügen und Abhängigkeiten wirklich erschließbar, verstehbar, beherrschbar und optimierbar. Die adäquate, der technischen Entwicklung entsprechende Umsetzung von Industrie 4.0 bedarf also kooperativer Arbeitsstrukturen und Arbeitsweisen, die nur in flacher Hierarchie funktionieren.
Dies wird auch darin sichtbar, dass dem Management eine Zerlegung in vorab festgelegte Arbeitsschritte immer weniger gelingt. Deshalb werden auch Zielvorgaben zum Mittel der Aufgabenzuweisung und Steuerung in neueren Management-Konzepten, auch diese aber mit unzureichender Steuerungsfähigkeit (siehe dazu auch die Dissertation „Reglementierte Kreativität“ und Artikel in „Gegen Blende“ von Nadine Müller – Referentin im Bereich „Innovation und Gute Arbeit“ beim Ver.di-Bundesvorstand in Berlin). Nach Nadine Müller wird „kooperative Individualität“ benötigt, als Verbindung von Spezial-Kompetenzen und „selbstorganisierter Kooperativität“, um Planungsfähigkeit angesichts zunehmender Komplexität zu schaffen. Eine feste Arbeits-Zerlegung widerspricht schon den Flexibilitäts-Anforderungen bei der Fehlererkennung in Kontroll- und Steuerungsaufgaben.
Konflikte zwischen kooperativer Arbeit und hierarchischen Vorgaben sind trotz der arbeitsprozesslichen Notwendigkeit von Kooperation in fortbestehenden hierarchischen Organisationen und Interessenlagen angelegt, ebenso in Widersprüchen zwischen betrieblichen Orientierungen auf Effizienz, Qualität und (kurzfristigen) Gewinn.
Kommentar von MB (Manfred Bürger) und HB (Helmut Bürger)
MB: Mitglied bei Ver.di, Gewerkschaftsmitglied seit 1971 (IGDruck, ötv, Ver.di), gewerkschaftliche Bildungsarbeit, besonders im Kontext der technischen Umstellung auf Druck- und Verlagszentrum in Stuttgart-Möhringen, 1976. Seit 1976 als Diplomphysiker am Institut für Kernenergetik und Energiesysteme Stuttgart, Leitung der Abt. Reaktorsicherheit und Umwelt. Seit 2012 in Rente (geb. 1946). Mitarbeit bei InkriT und Das Argument seit 2010. m.buerger@t-online.de
HB: M.A. Soziologie, Volkswirtschaft und Pädagogik. Jugendsekretär beim DGB Landesbezirk Ba-Wü 1979 bis 1988, Hans-Böckler-Stipendiat, Mitarbeit im Projekt „Einsatz neuer Technik in der Text- und Datenerfassung und -verarbeitung im Druckzentrum Stuttgart“ – Bericht Uni Bielefeld. Diplome europeen en sciences de l’environment. Umweltmanagement bei Stadt Tübingen. Seit 2013 in Rente (geb. 1950). helmut-buerger@online.de
Welf Schroeter says:
Liebe Kollegen,
die technischen Innovationen und die technikbedingten Rationalisierungen, die mit dem Konzept “Industrie 4.0” verbunden sind, verändern die Formen und Inhalte der Zusammenarbeit. Möglicherweise müssen wir dabei bedenken, dass wir es nicht nur mit neuen Wegen der materiellen Arbeit und deren Organisation zu tun haben. Die Wanderung von Arbeit ins Netz, die Digitalisierung von Arbeitsschritten und die Virtualisierung von Arbeitsprozessen führen dazu, dass wir ein neues Wechselverhältnis von materiellen und nicht-materiellen Vorgängen erleben. Es geht also nicht nur um die Kooperation von Menschen im Bereich sinnlich anfassbarer Arbeitsgegenstände sondern auch um die Beziehung von materieller Arbeit zu virtueller Arbeit. Die Abläufe im Netz sind keine Kopie des Realen sondern sie ersetzen reale Abläufe. Dies ist eines der Kennzeichen der neuen Komplexität.
Manfred Buerger says:
Unser Kommentar dazu:
Wir sollten genauer, d.h. konkreter, erfassen, was Virtualisierung von Arbeit beinhaltet und für den Arbeitsprozess bedeutet. Natürlich geht es nicht nur „um die Kooperation von Menschen im Bereich sinnlich anfassbarer Arbeitsgegenstände“. Kooperative Arbeit bezieht sich aus unserer Sicht auf den ganzen Arbeitsprozess, was wir in unserem Kommentar u.a. mit dem Hinweis auf die Verschiebung von manueller zu geistiger Arbeit ansprachen, wie auch bezüglich der „Beziehung von materieller Arbeit zu virtueller Arbeit“.
Was aber bedeutet: „Die Abläufe im Netz sind keine Kopie des Realen sondern sie ersetzen reale Abläufe.“? Dies wäre genauer zu erkunden, im Anschluss an praktische Erfahrungen und konkret anstehende Veränderungen.
Wir sehen das gegenwärtig so: Bisherige Produktionsabläufe mit Handanlegen werden durch automatisierte Prozesse ersetzt. Optimierungen des Produktionsablaufs werden zunehmend nicht mehr im realen Prozess experimentell sondern in der Modell-Simulation erkundet. Produktionsprozesse werden, soweit Informationsvorgänge und Steuerung betreffend, in Computer und Netz verlagert [schon beim Ersatz des Blei- und Maschinensatzes durch Computer-Satz]. Daraus ergibt sich eine Zunahme systemischer, steuernder, informationstechnischer, „virtueller“ Arbeit, Netz-Arbeit. Dabei geschieht aber weiterhin „Reales“. Die „virtuelle“ Arbeit trägt bei zu Produkt-Erstellung und –Verkauf.
Menschliche Arbeit verlagert sich dabei aber. Diese Prozesse müssen konkret erfasst werden, um gewerkschaftliche Eingriffsebenen zu erschließen. Kooperative Arbeitsweisen, gerade auch die virtuellen Arbeiten einschließend, sind eine zentrale Anforderung an eine effektive Gestaltung der komplexen Prozesse und beinhalten gleichzeitig Chancen für eine umfassendere Gestaltung im Interesse der Arbeitenden. Das Verhältnis von manueller zu geistiger Arbeit, von Handanlegen zu virtueller Arbeit, Modell-, Programmier- und informationstechnischer Arbeit, bedarf der Klärung im Zusammenhang mit kooperativer Gestaltung, besonders auch bezüglich der Erhaltung und Schaffung notwendigen Erfahrungswissens (notwendig zum Erkennen des Wesentlichen im Komplexen) und des Austausches mit theoretischer Durchdringung als Grundlage für die Steuerungsfähigkeit komplexer Systeme.